Ein Hoch auf das Stativ

Wildbach in der Toskana
Wildbach in der Toskana

Stativanwendung Lanzeitbelichtung:

 

Durch Belichtungszeiten von mehreren Sekunden wird die Bewegung des Wassers nicht mehr eingefroren, sondern erhält einen weichen, märchenhaften Charakter. Bei extrem langen Belichtungszeiten gleicht es Dunst oder Nebel, ein wunderschöner Effekt.

 

Mein diesjähriger Urlaub in der Toskana, bei dem 90 % aller Landschaftfotos mithilfe des Stativs entstanden sind, war der Abschluss einer Entwicklung die sich über mehrere Jahre hingezogen hat. Früher habe ich den Einsatz eines Stativs ganz kategorisch verweigert. Nichts gegen Ausrüstungsfetischismus, aber ich weigere mich kategorisch bei diesem niemals endenden Wettrüsten mitzumischen. Außer natürlich bei Kameras . . . und bei Objektiven . . . und bei der allerneuesten Bildbearbeitung -Software . . . äh, ist ja auch egal. Wer ein Stativ verwendet hat es vermutlich nicht anders verdient und leidet wohl schon unter einem senilen Alterstremor. Zugegeben, in der Makrofotografie mit ihrer extrem reduzierten Schärfentiefe kann ein Stativ durchaus sinnvoll sein. Das gilt auch für alle Vogelfreaks mit ihren monströsen Teleobjektiven, die an Mittelstreckenraketen erinnern. John Wayne mag treffsicher aus der Hüfte schießen, bei einem dreiviertel Meter langen Teleobjektiv führt das nur zu einem Leistenbruch und Bildern mit der Schärfe einer Puderquaste.

 

Andererseits zeichnet sich gerade mein Lieblingsmotiv „Landschaft“ dadurch aus, daß sie sich seit Jahrmillionen am selben Platz befindet und das auch noch im tiefenschärfenfreundlichen Weitwinkelbereich. Bisher ist es mir noch nicht gelungen die Fluchtdistanz einer Waldlichtung oder eines Wasserfalls zu unterschreiten und sie in die Flucht zu jagen. Natur ist paparazzifreundlich, für einen sauberen Blattschuss ist ein Stativ daher so überflüssig wie ein Wahrheitsdetektor für einen Politiker.

 

Irgendwann beschlich mich dann der schreckliche Verdacht, ich könnte vielleicht doch auf dem Holzweg sein. Also entschloss ich mich schweren Herzens zum Kauf eines edlen Manfrotto-Stativs. Wenn der Fotograf schon lausig ist, sollte wenigstens die Ausrüstung top sein. Die Produkte von Manfrotto zeichnen sich durch die filigrane Leichtigkeit von Gusseisen aus und sind nahezu unverwüstlich. Ihr Sturz kann leichte tektonische Verschiebungen in der Erdkruste auslösen und der Einsatz im Gelände ist nur mithilfe eines Gabelstaplers oder eines testosterongedopten Sherpas möglich. Im Nahkampf sind sie ähnlich verheerend wie die Abrissbirne eines Baukrans. Die Anzahl meiner Fotos mit Stativeinsatz blieb daher nahezu unverändert, die Anzahl der Bandscheibenvorfälle glücklicherweise auch.

 

Mehr oder weniger durch Zufall stieß ich irgendwann in einem Fotogeschäft auf ein Carbonstativ der Firma Sirui. Es war Liebe auf den ersten Blick! Bei starker Thermik müssen Carbonstative mit den mitgelieferten Erddübeln im Untergrund verankert werden, sonst entschweben sie sachte nach oben. Aufgrund des geringen Gewichts werden bei der Auslieferung keine Brieftauben sondern Kolibris eingesetzt. Dennoch stehen diese Teile bombenfest. Als zusätzliche Stabilisierung kann ein Haken unten an der Mittelsäule mit Gewichten beschwert werden, zum Beispiel mit einem Manfrotto Stativ. Bei den Aufnahmen im Wasser war trotz der starken Strömung keine einzige Aufnahme verwackelt. Auch mein hochfrequentes Schlottern im eiskalten Wasser hat das Stativ völlig unbeeindruckt gelassen. Ein Carbonstativ kann ich im Gelände stundenlang in der Hand tragen, ohne dass irgendwann meine Knöchel am Erdboden entlang schleifen.

 

Dieses Stativ hat meine Art und Weise zu fotografieren, ziemlich auf den Kopf gestellt. Stative „entschleunigen“. Ich lasse mir mehr Zeit bei der Aufnahme, wähle den Ausschnitt sehr viel bewusster als früher und registriere an guten Tagen sogar störende Elemente im Hintergrund. Nicht fotografierende Begleiter vergrault man mit dieser Methode allerdings endgültig. Wenn man auf einer Bergtour nach der ersten Stunde erst 100 m zurückgelegt hat und gerade zum 20. Mal das Stativ aufbaut, können sie unvermittelt in unartikulierte Knurrlaute ausbrechen und in die Stativbeine beißen. Im Zweifelsfall daher besser auf ein paar Aufnahmen verzichten. Ein gekippter Horizont, der häufig mit der ironischen Bemerkung „das Meer läuft aus“ kommentiert wird sowie stürzende Linien lassen sich jetzt relativ einfach vermeiden. Dazu kann die „Libelle“ am Stativkopf verwendet werden. Damit sind nicht die für ihre Flugstunts bekannten Insekten gemeint, sondern die kleine integrierte Wasserwaage. Alternativ gibt es externe Wasserwaagen, die in den Blitzschuh der Kamera geschoben werden.

 

Früher habe ich im düsteren Waldesdunkel notgedrungen mit astronomischen ISO-Zahlen und der größten Blende gearbeitet. Nur die Niagarafälle rauschten noch lauter als die so entstandenen Bilder. Mithilfe des Stativs sind der Einsatz kleiner Blenden und einer ISO-Zahl von 100 überhaupt kein Problem mehr. Wenn ich mir die technische Qualität der Bilder anschaue, die durch diese simple Maßnahme erreicht wird, treten mir jedes Mal Tränen der Rührung in die Augen. Schon die RAW-Files haben jetzt eine Schärfe wie eine indische Currywurst. Dazu trägt sicherlich auch das manuelle Fokusieren im Live-View bei. Ein extrem hoher Motivkontrast lässt sich nur mit der HDR-Technik wirkungsvoll unter Kontrolle bringen. Die Verrechnung der unterschiedlich belichteten Einzelaufnahmen funktioniert zwar auch bei freihändig geschossenen Fotos überraschend gut, aber mit Stativ steigt die Qualität nochmal um eine Stufe. Auch Langzeit-und Nachtaufnahmen haben plötzlich eine ganz andere Relevanz für mich bekommen. Besonders faszinierend finde ich das Langzeitbelichtungsmassaker, bei dem belebte Plätze durch eine minutenlange Belichtungszeit vollkommen leer gefegt erscheinen. Leider sind Gewicht und Preis von Carbonstativ indirekt proportional, das ist aber in meinen Augen auch der einzige Nachteil. „Standhaftigkeit“ hat zwar ihren Preis, zahlt sich andererseits aber auch wieder aus. Auf einen Ipod kann ich getrost verzichten, mein Tripod möchte ich dagegen nicht mehr missen :-)

Unterirdischer Marmorsteinbruch in der Toskana
Unterirdischer Marmorsteinbruch in der Toskana

Stativanwendung "Weg mit ihnen!": 

Unmittelbar nach dem Druck auf den Auslöser latschte eine 25-köpfige Reisegruppe mitten über die freie Fläche. Wegen der langen Belichtungszeit von 20 Sekunden zeichnen sich fast nur noch die Umrisse der gelben Sicherheitshelme ab (Pfeile!). Mit Belichtungszeiten von einigen Minuten können touristeninfizierte Sehenswürdigkeiten wie von Zauberhand in einen jungfräulichen, menschenleeren Zustand versetzt werden. Ist das nicht himmlisch? :-)

Typische Fotografenposition bei stativlosen Aufnahmen aus der Froschperspektive
Typische Fotografenposition bei stativlosen Aufnahmen aus der Froschperspektive

Nie wieder Bauchlage:

Das Stativ erlaubt mir in Verbindung mit dem schwenkbaren Display Kameraperspektiven umzusetzen, die freihändig extrem unbequem oder fast unmöglich waren. Froschperspektive ist jetzt auch ohne Bauchlage möglich, in meinem Alter lernt man auch solche kleinen Freuden durchaus zu schätzen :-)

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